Die Schale -
Urgebärde und Symbol

Das Wort "Schale" kann einmal die Bedeutung als schützende Umhüllung um einen Fruchtkern herum haben, und zum anderen kann damit ein Gefäß gemeint sein. Beide Begriffe können symbolisch die Seinsweise eines Menschen widerspiegeln: Ein Mensch, der sich auf sich selbst reduziert und egozentrisch die Welt auf sich bezieht, sich gleichzeitig von ihr abkapselt. Der andere, der sich offen, einer Schale gleich, der Welt empfangsbereit zuwendet, um das Leben in der Fülle aufnehmen zu können.

Das Wesen der Trinkschale zeigt sich darin, dass ihre Funktion durch das Empfangen bzw. Auffüllen und das Weitergeben bzw. das Leermachen besteht. Dieses Prinzip erfüllt und belebt die ganze Schöpfung. Seit altersher hat der Mensch dies symbolhaft durch die Schale angedeutet. Da die Schale die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer vereinigt, gilt sie auch als Sinnbild für den Kosmos.

Das Trinken aus der Schale verbindet den Menschen mit diesen Symbolgehalten und erneuert immer wieder seinen Kontakt zu einer menschlichen Ur-Gebärde, die darin besteht, beide Hände aneinander zu führen, um daraus eine Hohlform zu bilden. Mit dieser Hand-Schale war es dem Menschen möglich aus der Fülle eines Sees, eines Baches oder Flusses das lebensnotwendige Wasser schöpfen zu können. Dieser Vorgang war in der Regel einmal mit der Erfahrung des Überflusses und zum anderen mit der, dass man das Lebenselexier nicht festhalten und mitnehmen konnte, begleitet. Auch wenn man die Hände fest aneinander drückte, konnte nicht verhindert werden, dass Wasser beim Schöpfen und Trinken daneben floss. Der Trinkvorgang forderte vom Trinker eine bestimmte Körperhaltung: Er musste sich nah an das Wasser hocken oder knieen und seinen Oberkörper weit nach vorne in Richtung seiner zur Schale geformten Hände beugen, um daraus das Wasser schöpfen und schlürfen zu können. Die Geste des Verbeugens hat sich in der Geschichte der Menschheit tief in das Körpergedächtnis jedes einzelnen Menschen eingeprägt, denn sie gilt auch heute noch als Geste des Dankes, der Ehrfurcht und der Demut.

Der Trinkvorgang aus einer Schale führt den Trinker wieder an dieses Ur-Erlebnis heran und vielleicht wird die Erinnerung wachgerufen, dass in unserer Zivilisationsgesellschaft der Akt des Trinkens nicht als Selbstverständlichkeit erlbet werden sollte. Das Wasser, die Grundlage allen Lebens, wird knapper, und der Schein trügt, wenn Wasser in "Fülle" aus dem Wasserhahn fliesst. Wir haben immer weniger Gelegenheit, mit unseren Händen frisches Wasser aus der Fülle schöpfen und trinken zu können. Diese Ur-Erfahrung wird in Vergessenheit geraten und verdrängt werden durch die Erfahrung, eine genau abgemessene, bzw. rationalisierte Portion trinken zu können.

Das Beispiel der Zubereitung einer Tasse Espressokaffe macht deutlich, mit welch hohem Aufwand und Energie ein genau portioniertes Tässchen Kaffee zubereitet wird. Der ursprünglich lebendige und aus der Fülle schöpfende Vorgang des Trinkens ersetzt der moderne Mensch durch Putzen und Polieren der chromglänzenden Maschine und befriedigt damit seine nekrophile Neigung.

Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Trinken aus einer Henkeltasse modern und immer beliebter. Durch die Benutzung der Tasse als Trinkgefäß wird ein weiterer Ausdruck des Zeitgeistes und unseres Bewußtseins erkennbar. Der Henkel der Tasse wird mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger einer Hand angefaßt, so daß nur eine Hand teilweise beim Trinkvorgang beansprucht wird. Der Gegensatz dazu ist die ganzhändige Berührung der Schale mit beiden Handinnnenflächen. Die Welt ausschnittsweise, punktuell und analytisch zu interpretieren, sie nicht ganzheitlich wahrzunehmen, ist eine Folge einer naturwissenschaftlichen Sichtweise. Der Mensch kann die Dinge nur so begreifen, wie er sie anfaßt.

Symbolisch teilt diese Trinkgebärde folgendes mit: Der Daumen wird als Ausdruck der Persönlichkeit, der Willenskraft, des Ichs interpretiert, während der Zeigefinger in die Welt, bzw. auf etwas zeigt. Er wird in Verbindung mit der Wahrnehmung und dem Denken gebracht. Der Mittelfinger wird dem Nerven- und Sinnessystem zugeordnet und steht in enger Beziehung mit der Gewissenhaftigkeit des Menschen. Die Deutung der Trinkgebärde nach diesem Symbolverständnis lässt folgendes Bild über den in dieser Art und Weise trinkenden Menschen entstehen: Daumen und Zeigefinger sind in ihrer Stellung aufeinander bezogen und bilden einen geschlossenen Kreis. Das Bewusstsein des Menschen dreht sich um sich selbst, und diesen Zustand pflegt er sehr gewissenhaft, was die Stellung des Mittelfingers verrät. In der Trinkgebärde spiegelt sich somit deutlich der Bewusstseinszustand des zivilisierten Menschen wider. (Ein Exkurs über das Trinken mit dem Strohhalm würde das Missverhältnis zwischen Mensch und Natur noch deutlicher darstellen).

Abschließend noch einige Gedanken, die in mir lebendig werden, wenn ich eine Schale mit beiden Händen halte und daruas trinke: Die Handflächen schmiegen sich an die Schalenwand an. Ich nehme sie sensibel wahr. Es ist eine konzentrierte, besinnliche Art und Weise der Wahrnehmung, denn es ist ein Dialog der Nähe und der Berührung: Ich berühre und werde berührt. Das taktile Spüren ist ein inniger Prozess der Wahrnehmung, anders als der mit den Augen, wo ich distanziert bleiben und flüchtig hinschauen kann. Ich entdecke, dass ich das Wesen der Schale durch Blicke nicht er-fassen kann. Erst in meinen hohlen Händen geling es mir, durch behutsame Auf- und Abbewegungen gegen die Schwerkraft, ihr Gewicht abzuwägen. Durch Veränderung meines Händedrucks gegen die Wandung der Schale, nehme ich wahr, wie der heisse Tee durch das Gefäß die Hautoberfläche meiner Handinnenflächen belebt. Durch eine behutsame Drehung der Schale in meinen Händen werden kleine Unebenheiten und Unregelmässigkeiten spürbar. Sie vertiefen meine Beziehung zur Schale in der Weise, dass ich den ästhetischen Wert der Unvollkommenheit als etwas mit mir Gemeinsames begreife. Bevor ich die Schale zum Mund führe, erfreut sich mein Blick an der Glasur und Oberflächenstruktur. Meine Augen verweilen an einer bestimmten Stelle, die Schale "schaut" mich an. Hier ist diesmal ihr "Gesicht" wie die Japaner es bezeichnen. Nächstes Mal wird es woanders sein. Jedesmal berühren meine Lippen einen anderen Bereich des unregelmäßigen Schalenrandes. Blitzschnell haben sie die Konturen verinnerlicht und leiten die geschmeidig ertastete Berührung an die Hände weiter, die durch winzige Drehungen und leichten Druck die feinen Unebenheiten zwischen Unterlippe und dem Schalenrand ausgleichen. Durch diese subtilen Eindrücke und Wahrnehmungen wird die Schale zu meinem persönlichen Gefäss. Jede neue Berührung mit ihr wird begleitet durch etwas Bekanntes und Vertrautes, und doch ist sie jedesmal anders und fordert mich zur Zwiesprche auf. Dies geschieht nicht aufdringlich oder auffällig, sondern fast unmerklich aus ihrer Natürlichkeit, Schlichtheit und Zurückhaltung heraus.

Mit der Schale zwischen meinen Händen begreife und umfasse ich lieblich-taktil etwas von den Geheimnissen des Lebens, die ich intellektuell nicht konkret in Worte fassen kann. Die Offenheit und Bereitschaft etwas empfangen und es weitergeben zu können, ruht als Schale geformt in meinen Händen. Ich spüre wie in ihr Polaritäten verdichtet sind: Die Materie und die Leere, die Starrheit der Gefässwand und die Leichtigkeit ihrer Struktur, das visuell Sichtbare und das taktil Spürbare, die gestalterische Unvollkommenheit und das zur Vollkommenheit vollendete Zusammenspiel der Elemente von Erde, Wasser, Feuer und Luft.

Die Schale zwischen meinen Händen bietete sich stillschweigend an, das Wesenhafte meines Menschseins ertasten, begreifen und erfassen zu lernen. Dies sind alles Vorgänge der sinnlichen Wahrnehmung und nicht intellektuelle, abstrakte Denkprozesse.